Optimierung des Dispositionsmanagements in der Pharmaindustrie am Beispiel eines mittelständischen deutschen Unternehmens

Dr. Bernd Reineke’ und Steffen Schwippl2
Abels & Kemmner GmbH’, Herzogenrath, und Serag-Wiessner KG2, Naila

Der folgende Beitrag beschreibt die Umsetzung eines Optimierungsprojektes im Bereich Dispositionsmanagement. Ziel dieses Projektes ist die nachhaltige Verringerung von Lagerbestand und Aufwand bei gleichzeitigem Erhalt der Lieferbereitschaft von 24 bis 48 h. Die Bestimmung der Zielparameter Lieferbereitschaft, Bestände, Rüstaufwand und Lagerumschlag erfolgt über Simulationen, die mittels einer neuen Software als Ergänzung zum bestehenden ERP-System durchgeführt werden. Mithilfe des im Projekt eingeführten Bestandscontrollings konnte die Serag-Wiessner KG, ein mittelständischer Hersteller von Medizin- und Pharmaprodukten, innerhalb von zwei Jahren eine Lieferbereitschaft von 96 % kontinuierlich einhalten, bei gleichzeitiger Reduktion der Lagerbestände um 35 %.

l. Einleitung

Gerade im Bereich Pharma und Medizin sind die Kunden auf schnelle Lieferung von Produkten in höchster Qualität angewiesen. Nahtmaterial verschiedener Resorptionsstufen, textile Implantate oder Spül- und Infusionslösungen müssen oft innerhalb von 24 h vor Ort sein. Für die Hersteller solcher Produkte ist das mit einem erhöhten Lagerbestand verbunden, da man auch bei Bedarfsschwankungen sowie Störungen in der Beschaffungskette lieferfähig bleiben muss. Um kosteneffizient zu produzieren und dabei die Lieferbereitschaft nicht zu gefährden, bedarf es eines optimal auf das Unternehmen abgestimmten Dispositionsmanagements. Im Falle der Serag-Wiessner KG, einem mittelständischen Hersteller von Medizinprodukten, bedeutet dies, ein Sortiment von ca. 3 000 Artikeln im Geschäftsbereich chirurgisches Nahtmaterial und textile Implantate, die sich durch unterschiedliche Fadensorten, Fadenstärken, Längen und Nadel-Faden-Kombinationen auszeichnen, optimal zu verwalten. Dabei sind ca. 1500 Artikel ab dem Versandlager zu bevorraten, um sicherzustellen, dass die etwa 25 000 Kunden, zu denen Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und auch Großhändler im In- und Ausland zählen, ihre Lieferung innerhalb von 24 bis 48 h erhalten. Zur Erfüllung dieser Anforderungen werden Bestände im Fertigwarenlager vorgehalten, die vor Projektbeginn auf Basis der ERP-Bestellvorschläge von Planern und Disponenten dimensioniert wurden. Diese Bestände stehen daher im Fokus des Optimierungsprojekts, denn hier liegt ein enormes Einsparungspotenzial von bis zu 35 % für viele Betriebe (Abb. l) [1].

 Versuche, die Bestände aus eigener Kraft signifikant zu senken, führten in der Vergangenheit nicht zum gewünschten Erfolg. Aus diesem Grund initiierte das mittelständische Unternehmen ein Projekt zur Optimierung des Dispositionsmanagements und setzte dabei auf die Erfahrungen der Abels & Kemmner Gesellschaft für Unternehmensberatung, die zuvor anderen Pharma-Unternehmen bei der Optimierung ihrer Supply Chain behilflich war [2]. Die Unternehmensberatung hatte bereits in vielen Beratungsprojekten Unternehmensdaten analytisch und simulativ ausgewertet und so zur Optimierung der Unternehmensprozesse beigetragen. Dabei kamen insbesondere wissenschaftlich fundierte Methoden und Verfahrensweisen zum Einsatz. Die Forderung, eine beständige Lösung zu generieren, warf von Beginn an die Frage auf, ob und wie das bestehende ERP-System diese Lösung unterstützen kann. Dabei waren die Restriktionen in Produktion und Logistik zu berücksichtigen und in die Bestimmung der Dispositions- und Planungsparameter einzubeziehen: Neben den absatzorientierten Zielgrößen – Lieferzeiten von 24 bis 48 h sowie eine durchschnittliche Ziellieferbereitschaft von 96 %- galt es bei den Planungsparametern deshalb auch darauf zu achten, dass die Fertigungsaufträge und die damit verbundenen Rüstvorgänge auf 1200 pro Monat limitiert sein sollten.

Abbildung 4: Bestandssenkungspotenzial durch optimal eingestellte Planungs- und Dispositionsverfahren in Abhängigkeit vom angestreben Lieferbereitschaftsgrad (LBG) bei SCHOTT-Rohrglas
Abb. l: Bestandssenkungspotenzial bei Unternehmen nach der Erfahrung der Abels & Kemmner GmbH (Quelle: Projekterhebungen Abels & Kemmner 2001)

2. Festlegung der Zielparameter und deren Größen

Zu Beginn des Projekts steht die Bestandsaufnahme mit der Erhebung der Ist-Prozesse sowie der logistischen Kenngrößen wie Reichweite, Lieferbereitschaft und Lagerumschlag. Ein wichtiger Aspekt in dieser Phase ist auch die Analyse des ERP­Systems, das beim Hersteller von Medizinprodukten eingesetzt wird. Das laufende System verfügt zwar über Grundfunktionen in Disposition und Prognostik, aber bereits zu Beginn des Projektes wird deutlich, dass ohne Erweiterung dieses Systems die Projektziele kaum zu erreichen sind, da das System nicht genügend an den tatsächlichen Planungsbedarf angepasst werden kann [3]. Daher entscheidet sich das Management, die fehlende Anwendungsmöglichkeiten über das Optimierungstool DISKOVER SCO zu ergänzen. Diese Software zeichnet sich insbesondere durch starke Funktionalitäten in folgenden Bereichen aus:

  • Optimierung durch Simulation,
  • zahlreiche Prognose- und Sicherheitsverfahren (insbesondere verteilungsfreie Verfahren),
  • Optimierung der Dispositionsparameter und
  • integriertes Bestandscontrolling.

Da die Entscheidung für diese Software schon in der frühen Projektphase getroffen wird, fließen die Möglichkeiten des Systems bereits in die Konzeption ein, was für das Projektteam einen deutlich größeren Gestaltungsspielraum bedeutet.

In der Lösungsfindung werden zunächst über differenzierte Simulationen die Einflüsse von Lieferbereitschaft, Beständen und Rüstaufwand ermittelt. Insbesondere sind hier folgende Faktoren von Interesse:

  • Losgrößen,
  • Mindestmengen,
  • Maximalbestände,
  • Eindeckzeiträume und
  • Dispositionsverfahren.

Insgesamt werden bei dem mittelständischen Unternehmen daher 26 verschiedene Simulationsszenarien mit unterschiedlichen Einstellungen für die genannten Parameter in Abhängigkeit von deren ABC-/XYZ-Klassifizierung eingesetzt zum Erreichen der Ziellieferbereitschaft bei geringstmöglichen Beständen.

Dabei wird schnell deutlich, dass die Projektziele nur mit differenzierten Lösungsansätzen erreicht werden können. Dies bedeutet, dass z. B. für verschiedene Produktgruppen unterschiedliche Ziellieferbereitschaftsgrade definiert oder für geringwertige C-Artikel höhere Reichweiten bzw. größere Losgrößen gewählt werden als für die umsatzstarken A-Artikel. Letztlich wird im Rahmen der Konzeption ein Regelwerk in Form einer Entscheidungstabelle geschaffen, das den Kriterien der ABC- und XYZ-Kennzeichen sowie der Lagerhaltigkeit und den Marktanforderung der verschiedenen Produktgruppen Rechnung trägt. Dieses Regelwerk wird in der Software DISKOVER SCO abgebildet und lässt sich flexibel an die sich ändernden Anforderungen anpassen, seien diese Änderungen nun durch neue Anforderungen des Marktes, neue Produkte oder Änderungen der Lagerkapazität bzw. Kapitalbindung verursacht.

Im Rahmen der Simulationen können im Voraus die erreichbaren Zielgrößen Lieferbereitschaft, Bestand und Rüstaufwand bestimmt werden. Allerdings stellen sich die Ergebnisse zu Beginn der Umsetzungsphase noch nicht ein. Der Durchbruch zur nachhaltigen Bestandsreduktion kommt erst nach der Implementierung des täglichen Bestandscontrollings. Dabei werden nach jedem Tag Bestände, Umsätze, Lagerumschlag und Lieferbereitschaft berichtet und den aktuell simulierten Zielgrößen gegenübergestellt. Bei der Lieferbereitschaft wird sogar über verschiedene Zeiträume (sieben Tage bzw. 30 Tage) differenziert, um die kurzfristige Entwicklung der Lieferfähigkeit besser beurteilen zu können. Per E-Mail gelangt dieser Report täglich auf die Bildschirme der Disponenten und des Managements. So können die Verantwortlichen bei starken Abweichungen kurzfristig reagieren und ggf. gegensteuernde Maßnahmen ergreifen. Ziel dieser Maßnahme ist es dabei, die Bestände weitestgehend zu verringern, so dass die Lieferbereitschaft von 24 bis 48 h dennoch erhalten bleibt.

3. Einsatz von Bestandscontrolling zur Reduktion des Bestands

Abb. 2: Bestandsentwicklung nach Einführung des Controllings

Die Bestandsentwicklung (Abb. 2) zeigt, dass mit dem DISKOVER-Bestandscontrolling die Ergebnisse nachhaltig verbessert werden. Überbestände werden abgebaut und der Gesamtbestand auf ca. 65 % verringert. Dies führt auch zu einer Erhöhung des Lagerumschlags, der von sechs auf neun ansteigt. Damit sinkt die durchschnittliche Lagerdauer von neun auf sechs Wochen (Abb. 3).

Lagerumschlag
Abb. 3: Lagerumschlag. Ordinate: Zahl der Bestandsdrehung pro Jahr

Da die Lieferbereitschaft auf keinen Fall in Mitleidenschaft gezogen werden darf, wird diese ebenfalls genauestens überwacht. Im Verlauf des Bestandscontrollings und der Dispositionsoptimierung verbessert sich dieser kritische Parameter sogar von durchschnittlich 93 % auf 96 %. Die Senkung der Bestände und die Verkürzung des Lagerumschlags wirken sich also nicht negativ auf die Lieferbereitschaft aus.

4. Ergebnisse und Fazit

Im Rahmen des Dispositionsparameter-Optimierungsprojekts wurden die folgenden Ziele nachhaltig erreicht:

  • Der Lagerumschlag erhöhte sich von sechs auf knapp neun. Damit stellte sich eine durchschnittliche Lagerdauer von rund sechs Wochen ein.
  • Der Lagerbestand wurde zudem auf 65 % reduziert, dies ging jedoch nicht zu Lasten der Lieferbereitschaft. Vielmehr wurde die Lieferbereitschaft um drei Prozentpunkte auf 96 % verbessert und kontinuierlich gehalten.
  • Die Lagerbestandsreduzierung von 35 % setzte entsprechende Liquiditätsreserven frei, welche das Unternehmen nun aktiv zur weiteren Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit nutzt.

Insgesamt konnten alle Maßnahmen erfolgreich umgesetzt und implementiert werden. Die nachhaltige Umsetzung vor allem des Bestandscontrollings führt bei dem Hersteller von Medizinprodukten zu einer dauerhaften Reduktion der Kosten für Lager und Bestände, die bei den meisten Unternehmen in einem solchen Fall bei rund 15 % pro Jahr liegt [3].

Gerade mittelständische Unternehmen, auch in der Pharmaindustrie, können bei angepasster und umfassender Bestandsoptimierung kurz- und langfristig Kosten senken bzw. einsparen. Dabei ist zu beachten, dass eine genaue Analyse der bestehenden Daten vorgenommen und die Lieferbereitschaft nicht gefährdet wird. An das Unternehmen und den Markt angepasste Simulationen unterstützen hierbei den Optimierungsprozess, indem sie aufzeigen, welche Bestandsmengen reduzierend auf die Lieferbereitschaft einwirken würden und somit kritische Werte für die Dispositionsparameter der jeweiligen Artikelgruppen exakt festgelegt werden können.

Basierend auf diesen betriebswissenschaftlich-mathematischen Grundlagen ist eine risikoarme, bedarfsgerechte Einstellung der Disposition und damit eine erfolgreiche Bestandsoptimierung unter Einhaltung bzw. Verbesserung der Lieferfähigkeit möglich.


Literatur:
[1] Kemmner, G.-A. Bis zu 30% Bestandssen­kungspotenzial; in: VDI-Nachrichten Nr. 20, 19.05.2006.
[2] Kemmner, G.-A. Das externe Auge sieht mehr; in: CHEManager Nr. 15- 16/2009, S. 23.
[3] Reineke, B. Effiziente Beschaffungspro­zesse laufen automatisiert; in: Logistik & Fördertechnik Nr. 2, 15.02.2006, S. 42f.

Dr. Bernd Reineke

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