Ein Pull-Verfahren in der Materialdisposition ist ein Steuerungsprinzip, bei dem Materialflüsse und Produktionsprozesse durch tatsächliche Bedarfe „gezogen“ werden, anstatt durch Planvorgaben „geschoben“ zu werden. Es ist ein zentrales Element in Lean-Produktionssystemen wie dem Toyota-Produktionssystem.
Beim Pull-Prinzip wird Material nur dann nachgeliefert oder produziert, wenn ein konkreter Bedarf vorliegt – z. B. wenn ein nachgelagerter Prozess eine Entnahme meldet. Dies steht im Gegensatz zum Push-Prinzip, bei dem Material auf Basis von Prognosen oder Produktionsplänen vorab bereitgestellt wird.
Zwei Ausprägungen können beim Pull-Prinzip unterschieden werden: Einerseits setzt man es bei lagerhaltigen Materialien ein, andererseits bei kundenspezifischen Materialien. Die erste Ausprägung ist diejenige, die allgemein als Pull-Prinzip verstanden wird. Aus dem lagerhaltigen Material, das in einem „Supermarkt“ liegt, werden Materialmengen entnommen und nach einer definierten Regel werden die entnommenen Materialmengen wieder aufgefüllt. Dieser Mechanismus kann auf allen Stufen der Wertschöpfungskette, vom Rohmaterial bis zum Fertigmaterial stattfinden.
Grundsätzlich erfolgt aber jede Belieferung eines Kundenauftrages nach dem Pull-Prinzip, sei es, dass über den Kundenauftrag lagerhaltige Artikel bestellt werden, sei es, dass eine kundenspezifische Fertigung oder Montage stattfindet. In diesem Falle befindet sich am Logistischen Entkopplungspunkt ein Supermarkt mit kundenauftragsneutralen Beständen. Aus diesen wird Material entnommen, aber nicht direkt geliefert, sondern kundenauftragsspezifisch weiterverarbeitet oder montiert und dann erst an den Kunden ausgeliefert.
Fertigungssteuerung- bzw. Dispositionsverfahren, die nach dem Pull-Prinzip erfolgen sind u.a. die verbrauchsgesteuerte Disposition, die Meldebestandssteuerung oder Kanban. In gewisser Weise gehören auch das CONWIP-Verfahren und das POLCA-Verfahren hierzu.
Vorteile der Pull-Verfahren liegen in geringeren Lagerbeständen, einer höheren Transparenz im Materialfluss, der Vermeidung von Verschwendung und in einem geringeren Steuerungsaufwand, sofern eine stabile Nachfrage vorliegt.
Unser Tipp:
Es wird oft behauptet, dass bei Pull-Verfahren in der Materialwirtschaft keine Bedarfsprognosen nötig sind, da nur nachgefertigt wird, was tatsächlich entnommen wird. Diese Sichtweise ist jedoch zu kurz gedacht, denn die Bestände in den Supermärkten, so bemessen sein müssen, dass sie bis zur nächsten Lieferung ausreichen. Daher ist eine Bedarfsprognose erforderlich. Viele Anwender sind sich dessen jedoch nicht bewusst, da sie die Bestände „aus Erfahrung“ einstellen und sie nicht durch statistische oder KI-basierte Prognosen ermitteln.
Pull-Verfahren eignen sich nicht in allen Dispositionssituationen. Bei stark schwankender Nachfrage sind sie sehr anfällig für Überbestände und/oder Lieferungszuverlässigkeit. Sofern es sich um komplexe Produkte oder Lieferketten mit häufigen Materialwechseln handelt, wird der Steuerungsaufwand schnell sehr hoch.