Sales & Operations Planning: „Es reicht nicht, wenn jeder seine eigene Planung macht“

Corona-Pandemie und Chipmangel haben gezeigt, was passieren kann, wenn Vertriebs-, Produktions- und Einkaufsplanung nicht aufeinander abgestimmt sind und jeder sein eigenes Süppchen kocht: Fehlallokation von Ressourcen, Materialmangel, lange Wartezeiten für die Kunden und das in der gesamten Lieferkette. Was können Unternehmen daraus lernen und welche Rolle spielt insbesondere der Einkauf in dieser Konstellation? MBI Einkäufer im Markt sprach darüber mit Andreas Kemmner und Dirk Ungerechts, Geschäftsführer von Abels & Kemmner. Das Aachener Beratungsunternehmen ist auf Supply Chain Management spezialisiert.

MBI Einkäufer im Markt: Herr Kemmner, Herr Ungerechts, was ist der Stellenwert des Einkaufs in Sales & Operations Planning?

Andreas Kemmner: Grundsätzlich geht es bei Sales & Operations Planning (S&OP) darum, die gesamte Kommunikation vom Vertrieb bis zum Einkauf zusammenzuführen. Ziel ist es, besser erkennen zu können, welche Marktbedarfe momentan zu bedienen sind und ob die Produktionskapazitäten sowie die Beschaffungsressourcen dafür vorhanden sind. Das Ganze ist nach Möglichkeit zu automatisieren, damit es zu einem rollierenden Prozess wird.Der Einkauf steht dabei am Anfang des Prozesses. Er muss am weitesten in die Zukunft schauen, denn er muss Dinge beschaffen, die erst später produziert und noch viel später verkauft werden sollen. Insofern ist der Einkauf derjenige, der am meisten Probleme bekommt, wenn man keine Vorstellung hat, wie sich der Markt entwickelt.

Sind die Einkaufsabteilungen dieser Aufgabe gewachsen?

Dirk Ungerechts: Der Einkauf benötigt dafür vom Vertrieb Informationen, die entsprechend weit nach vorn gerichtet sind. Falls das nicht der Fall ist, kann es dazu kommen, dass der Vertrieb etwas verkaufen will, dass in dieser Form vom Einkauf gar nicht beschafft werden kann. Ein großes Problem ist, dass die falschen Komponenten oder falschen Mengen beschafft werden und am Ende das, was vorhanden ist, und das, was verkauft werden könnte, nicht zusammenpasst.

Ist das ein organisatorisches Problem oder liegt es vielleicht auch an der Software, die in den Unternehmen zum Einsatz kommt?

Ungerechts: Es gibt drei Fehlerquellen: Prozesse, Organisation und IT-Systeme. Wir sehen häufig, dass in den Firmen die einzelnen Abteilungen ihre Pläne machen, diese aber nicht aufeinander abgestimmt sind. Der Vertrieb gibt seine Einschätzung ab, was man verkaufen könnte, die Produktion überlegt sich, wie die Maschinen effizient belegt werden können und der Einkauf macht sich Gedanken darüber, was er beschaffen könnte – und möglicherweise gibt es sogar noch eine Supply-Chain-Abteilung. Und all diese Pläne greifen nur bedingt ineinander. Wenn das Ganze dann noch von verschiedenen Systemen unterstützt und in verschiedenen Größen gedacht wird – in Euros, in Stücken oder Kilogramm –, dann wird es schnell chaotisch.

An welchen Stellschrauben kann man hier drehen? Was empfehlen Sie Ihren Kunden?

Kemmner: Wir kommen aus einer Welt der marktgetriebenen Synchronisation der Lieferkette: Die Demand-Seite geht vorne raus und die Supply-Seite sorgt dafür, dass alles Nötige beschafft wird. Aber diese Welt existiert so nicht mehr. Die Konsequenz daraus ist, die Kommunikation zu verbessern. Normalerweise macht man einen Planungsprozess einmal im Monat. Es gibt mehrere Abstimmungsrunden zwischen den Abteilungen, bis man sich auf einen gemeinsamen Bedarfsplan geeinigt hat. Das muss IT-technisch unterstützt werden, damit es schnell abläuft. Mit Papier und Flipchart und manueller Diskussion kommt man da nicht weit.Das sind die Knackpunkte: Die entsprechende Organisation fehlt in vielen Unternehmen, weil die Abteilungen auf der Basis von Daten aus der Vergangenheit ihre Pläne machen. Darüber hinaus fehlt die technische Durchgängigkeit. Im schlechtesten Fall sind mehrere unterschiedliche, nicht miteinander harmonierende IT-Systeme am Prozess beteiligt, sehr häufig ist aber gar kein IT-System vorhanden, abgesehen vom ERP-System, das in der Regel generalistisch ist und sich für die Abbildung eines S&OP-Prozesses eher schlecht eignet. Da wird noch vieles mit der Excel-Tabelle gemacht – nicht nur im Einkauf!

Welchen Stellenwert haben die Lieferanten, wie können sie eingebunden werden?

Kemmner: Oftmals verlässt sich der Einkauf aus seiner Erfahrung darauf, dass der Lieferant es schon schaffen wird. Oder er fragt ihn per Telefon oder E-Mail an. Dabei geht wertvolle Zeit verloren. Deshalb sollte man darüber nachdenken, den technisch unterstützten Prozess auf den Lieferanten auszudehnen. Das heißt: Der Lieferant erhält konkrete Bedarfszahlen und kann im System eingeben, ob er in der Lage ist, die benötigten Mengen zu liefern, beziehungsweise, wieviel er zur Verfügung stellen kann.

Ungerechts: Wichtig dabei wäre auch, dass der Lieferant seine Zeit und Mengenrestriktionen in das System eingeben kann. Dann weiß ich, wann er wieviel liefern kann, und kann das in meinen Plänen abbilden. Unrealistische Vorgaben vom Vertrieb lassen sich so vermeiden.

Während der Corona-Pandemie hatten gerade Automobilzulieferer teils große Probleme, weil ihre Kunden von heute auf morgen Abrufe storniert haben, was die Planungen über den Haufen geworfen hat. Lässt sich so etwas mit einem S&OP verhindern?

Kemmner: Sie sprechen die Quereffekte an, die vor allem wegen des Chipmangels entstanden sind. So etwas wird immer wieder vorkommen. Aber wenn die Kunden ihre Bedarfe offen kommunizieren, können sich die Lieferanten besser auf Situationen einstellen, wenn entweder mehr oder weniger Material benötigt wird. Ein Lieferant, der die geforderte Menge nicht liefern kann, wird dies dem Kunden nicht direkt sagen, weil er damit rechnen muss, dass der Kunde sich dann nach einem anderen Lieferanten umschaut. Und wenn ich als Kunde nachlassende Bedarfe habe, dann kommuniziere ich das auch nicht direkt, sondern halte den Lieferanten bei Laune, denn die Lage könnte sich ja wieder bessern. Wenn ich dem Lieferanten zu früh absage, dann kann ich nicht schnell genug Gas geben, wenn die Nachfrage wieder anzieht. Je unsicherer die Prozesse sind, desto weniger reicht es, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht und seine eigene Planung macht.

Seit der Pandemie haben sich viele Unternehmen die Läger gefüllt beziehungsweise überhaupt erst einmal welche angelegt, um gegen mögliche Lieferausfälle gewappnet zu sein. Das bindet Kapital und belastet die Bilanz. Gibt es aus Ihrer Sicht so etwas wie eine optimale Bestandsgröße?

Kemmner: Wir haben derzeit ein gewisses chaotisches Verhalten am Markt, bedingt durch die Pandemie, den Krieg in der Ukraine und geopolitische Faktoren wie den Gegensatz zwischen China und Amerika. Das ist aber statistisch messbar und darauf kann man sich einstellen. Allerdings ist auch klar, dass das Bestandsniveau höher liegen wird als das vor einigen Jahren der Fall war.

Auf Ihrer Website lese ich, dass ein S&OP-Prozess auch die Materialeffizienz erhöhen kann. Inwiefern?

Kemmner: Bei Materialeffizienz denkt man zuerst an technische Aspekte, zum Beispiel indem Bauteile dünner gemacht werden oder recyclingfähiges Material verwendet wird. Ich verschwende aber auch Material, wenn ich etwas nicht verkaufe, oder Komponenten kaufe, die ich nicht mehr benötige. Das kann sich durchaus zu erheblichen Beträgen summieren. Ein Planungsprozess, wie er uns vorschwebt, würde diese Verschwendung reduzieren. Außerdem lässt sich dadurch der CO2-Ausstoß senken.Wenn ein Unternehmen beispielsweise zu wenig Bestände hat, kann es dazu kommen, dass es bei Auftragsspitzen Sonderfahrten machen muss. Das ist ein immenser CO2-Faktor, wenn ein Lkw ein zweites Mal fahren muss, nur weil drei Paletten gefehlt haben. Man bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat – ein Zuviel an Material kann genauso zu Verschwendung führen wie zu wenig Material.

Ungerechts: Nach meinem Gefühl gehen viele Unternehmen momentan, wo das Geld viel teurer geworden ist, abrupt von Vollgas auf Vollbremsung. Um das zu vermeiden, muss ich vorausschauend fahren. Wenn ich das nicht mache, dann reicht es nicht aus, den Fuß vom Gas zu nehmen und ausrollen zu lassen, dann muss ich wirklich auf die Bremse treten mit allen Verschleißerscheinungen. Die Firmen, die in der Lage sind, nach vorne zu schauen, die haben jetzt auch weniger Aufwand.

Was machen solche Firmen, das andere nicht machen?

Ungerechts: Ich will das mit einem Ruderboot vergleichen. Dort ziehen alle Ruderer mit einer bestimmten Taktung an den Riemen. Der Steuermann gibt die Schlagzahl vor und alle halten sich daran, niemand tanzt aus der Reihe. Andernfalls würde das Boot ins Schlingern geraten. Auf ein Unternehmen bezogen heißt das: Der Einkauf beschafft genau das, was der Vertrieb benötigt und was die Produktion verarbeiten kann. Dann kommt man auch besser durch Krisen.

Sie haben die Bedeutung einer professionellen IT-Unterstützung betont. Gibt es Software, die Sie empfehlen können?

Kemmner: Ich möchte keine Namen nennen, aber ein Punkt ist mir wichtig, der meiner Erfahrung nach häufig übersehen wird: 80 Prozent eines S&OP-Prozesses sind Software. Ohne eine durchgängige Software-Unterstützung können sie keinen nützlichen Planungsrhythmus entwickeln. Denn es ergibt wenig Sinn, wenn sie den Planungsprozess von der technischen Prognose, über Vertriebsinformationen und Kapazitätsbedarfsplanung bis zur Beschaffungsplanung und Lieferantenkapazitätsplanung einmal und mit großem Kraftaufwand im Jahr machen, sondern sie müssen das schon monatlich auf die Beine stellen. Außerdem darf es die Mitarbeiter nicht so stark beschäftigen, dass sie nichts anderes mehr tun. Die Ausgaben für eine solche Software machen sich nachweislich bezahlt. 

Das Interview führte Mark Krieger

Das Interview ist in Ausgabe 11 vom 1. Juni 2023 des MBI Einkäufer im Markt auf den Seiten 4 – 5 erschienen.

Dirk Ungerechts

Dirk Ungerechts

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